May 13, 2018
Greg Curnoe, America, 1989, Lithograph

Für eine nicht-amerikanische Weltsicht

Sollten wir, angesichts der einseitigen Aufkündigung des internationalen Nuklearabkommens mit dem Iran und der entsetzlichen Folgen dieser kriegstreibenden Entscheidung Angst haben oder sollten wir uns diese Gelegenheit, mit Hilfe anderer Bündnispartner, zunutze machen? Handelt es sich um einen Fluch oder ist es nur ein Vorwand, die Hegemonie der US-Regierung zu unterlaufen und die Energie- und die Waffenindustrie der Vereinigten Staaten zu isolieren? Können wir uns eine Welt vorstellen, die nicht länger die Interessen der US-Regierung als entscheidenden Parameter in internationalen Beziehungen annimmt; in der die Beziehungen zwischen benachbarten Ländern mit einer langen Geschichte friedlicher Koexistenz nicht dem Kalkül des amerikanischen Waffen- und Energiehandels unterliegen?

Der Ausstieg der USA aus dem Nuklearabkommen ist die Entscheidung eines egoistischen autonomen politischen Systems, ein historisches Abkommen zu verlassen. Im Iran wurde das Abkommen, von einer Minderheit an Hardlinern und extremistischen, säkularen Nationalisten in der Diaspora abgesehen, von einem breiten Spektrum politischer Überzeugungen einhellig unterstützt, von liberalen und linken Positionen und Oppositionen bis hin zu den Familien der Märtyrer des Iran-Irak Krieges. Selbst politische Gefangene unterstützten das Abkommen aus ihrer Gefangenschaft. Trotz Unstimmigkeiten und andauerndem Kampf für mehr Demokratie im eigenen Land stimmten die Iraner dem Nuklearabkommen in einer heiklen innenpolitischen Situation zu, da sie in der Aufhebung internationaler Sanktionen eine Möglichkeit sahen, die innenpolitische Sackgasse hinter sich zu lassen. Dieser Konsens war das Ergebnis Irans jahrelanger Erfahrung mit politischen Kämpfen.

Diese geschichtsträchtige Erfahrung beschränkt sich nicht auf die letzten vier Jahrzehnte nach der Revolution und das stürmische Verhältnis der iranischen Bevölkerung zur eigenen Regierung. Die Geschichte des parallelen Kampfes gegen die Tyrannei und den Kolonialismus hat sich in der tiefsten Erinnerung jedes Iraners festgesetzt, und zwar nicht anhand offizieller Schilderungen und der Geschichtsüberlieferung in Schulbüchern, sondern durch Poesie, Bilder und Geschichten, die von Mund zu Mund und von Haus zu Haus weitergetragen werden.

Der Stolz und die Loyalität des Iran gegenüber dem Nuklearabkommen sind nicht nur als Lob für Irans beliebten Außenminister zu verstehen, sondern als Stolz auf eine lange Geschichte von Friedensverhandlungen durch Politiker, die sich für die Öffnung eines Weg des Dialogs einsetzen, um das Leben der Menschen zu sichern und zu verbessern. Diese Weisen schafften es, einen Weg zu finden, um mit der mongolischen Herrschaft im neunten Jahrhundert zu verhandeln und brutale Armeen in würdevolle Bürger des Landes zu verwandeln. Durchschnittliche Iraner haben dieses Erbe verinnerlicht und in ihren täglichen Kämpfen mit den Obrigkeiten angewandt.

Der Ausstieg der USA aus dem Nuklearabkommen schadet nicht nur der iranischen Wirtschaft, sondern hat auch das Potential, das Selbstbewusstsein der Iraner zu schädigen. Iraner und jene, die das Abkommen aufrecht erhalten, sollten unser Selbstwertgefühl sowie friedliche Politik geduldig schützen, ohne Angst vor dem bevorstehenden Weg zu haben. Die wahre Spaltung in der Welt ist nicht die zwischen Iran und dem Westen, sondern zwischen Kriegshetzern und jenen, die Frieden suchen.

Wir sollten nicht vergessen, dass Irans einzigartige geographische Grenze nicht von Kolonialherren gezogen wurde. Die einzigartige Diversität der Bevölkerung und ihre Unabhängigkeit ist ein außergewöhnliches Beispiel für ein Zusammenleben von Menschen. Dieses Zusammenleben ist das Ergebnis eines lang gelebten Vertrauens in die Diplomatie. Wahlen im Iran haben selbst unter tiefgreifender interner Zerrissenheit stattgefunden, obwohl ein Sicherheitsstaat die Rechte der Bürger überschattet.

Die Lebenserfahrung im postrevolutionären Iran war nicht die einer Isolation vom Rest der Welt, sondern, in einem Land zu leben, dessen Name jahrelang auf den Titelseiten der Weltnachrichten prangte, ohne ein akkurates Bild seiner Millionen Einwohner zu zeichnen. Stattdessen war das Bild Irans ein vages, doch fixes Bild, das mit den alten Texten der Kalten Krieg-Politik räsoniert: Ein abstraktes Land, dessen imaginäre Diktatur uns an die freie Welt erinnert. Dieses unbekannte Bild wurde jeden Tag an Millionen Menschen auf der Welt ausgestrahlt. Jene, die versuchten, dieses Bild zu schwächen, schafften selbst umgekehrte Reflektionen des Landes, das ein westliches Publikum anspricht, und halfen ihnen so, die unbekannte Opposition im Iran zu erkennen. Manche iranischen Künstler reagierten auf diese Übertreibung unbewusst, indem sie das Gewöhnliche in der Repräsentationen des Irans akzentuierten..

Nichtsdestotrotz ist der Iran eine Ausnahme in der gegenwärtigen Weltordnung, da es die Gut-Böse Dichotomie der Kalten-Kriegs-Ära untergräbt. Der Iran war ein Land, das zu George Bushs Achse des Bösen gehörte und stellte den Fokus von ständigen Bedrohungen amerikanischer Politiker dar. Jedoch ist der Iran in den letzten zwölf Jahren als das erste Land in der Geschichte der Vereinten Nationen hervorgegangen, dem die Aufhebung internationaler Sanktionen durch Verhandlungen gelang, ohne dass dies in einem Krieg endete.

Der Erhalt der umkämpften Demokratie im Iran ist das Resultat einer politischen Reife, die in vielen Jahren unter äußeren Bedrohungen entstanden ist. Eine Reife, die von Generation zu Generation weitergegeben wurde. Die Politik sehnt sich, heute mehr denn je zuvor, nach einem Dialog mit der Welt und zeigte ihre Bereitschaft zu einer neuen Internationalität nach dem Bild friedlicher politischer Kräfte in verschiedenen Geographien. Deshalb ist nicht der Ausstieg Amerikas aus dem internationalen Nuklearabkommen mit dem Iran die größte Katastrophe, sondern vielmehr die darin enthaltene, lautstarke und vorsätzliche Zurückweisung jener Weltvorstellung durch die offizielle Stimme der amerikanischen Politik. Um diese Vorstellung von der Welt zu erhalten, müssen wir mehr denn je zusammenhalten, um erneut eine Vision zu ermöglichen, die von der absoluten Herrschaft der amerikanischen Hegemonie frei ist.

Golrokh Nafisi ist eine iranisch-niederländische Künstlerin und Autorin, und lebt in Teheran.

Übersetzung: Gritta Ewald, Roland Spitzer und Sebastian Wirth

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